Sonntag, 7. April 2019 . Mein Handy hat keinen Stoff mehr, gerade in einer Stadt wie Paris fühlt man sich dann ziemlich verloren. Ich sitze auf der Terrasse eines alten Gemäuers mitten im Herzen von Paris auf der Seineinsel, Ile de la Cité , dort, wo diese pulsierende Metropole schon vor der Römerzeit ihren Anfang genommen hat.
Nur 20 Meter um die Ecke findet man im Pflaster den Originalverlauf einer römischen Stadtmauer. Bei meinem Platz in der Sonne handelt es sich sich um eines der wenigen noch erhaltenen einstigen Domherrenhäusern, die von der großen Stadtsanierung des Baron Haussmann Mitte des 19.Jh. verschont geblieben sind. „Chanoine“ sagt man im Französischen für Domherr, nach der auch die Strasse benannt ist, in der ich mich befinde.
Das Domherrenviertel war im Mittelalter ein abgeschlossener Bezirk um Notre Dame, in dem sich Theologen aus ganz Europa trafen. An der Schule von Notre Dame, die später die Keimzelle der Universität Sorbonne bildete, lehrten einst Abélard, Bonaventura und der Heilige Dominikus.
Die Dame am Nachbartisch erkennt mein Problem und hält ein Gerätchen hoch, an dem ich mein Handy aufladen kann. Wir kommen ins Gespräch und sie fordert mich auf, mich zu ihrem Tisch zu setzen und wir nehmen unser Mittagessen gemeinsam ein. Die Mittvierzigerin heißt Marta und ist wie die meisten Pariserinnen nicht hier geboren, sondern in Kolumbien. Sie arbeitet für ein Textilunternehmen. Natürlich bin ich neugierig und frage nach. Etwas verstohlen und bescheiden nennt sie den Namen „Chanel“. Meine Neugierde steigert sich, ich denke an Lagerfeld, den großen Maestro, dessen Porträt anlässlich seines Ablebens vor kurzer Zeit sämtliche Titelseiten großer deutschen Zeitungen zierten; was hat sie wohl über ihn zu sagen?
Sie antwortet zögerlich und fast flüsternd. Ja , sie habe 17 Jahre lang eng mit ihm zusammengearbeitet. Im Unternehmen sei es im Moment ein Tabuthema über ihn zu sprechen. Sie flüstert weiter , alle Menschen wären ersetzbar, aber nicht er, er wäre ein wirkliches Genie in seiner Kreativität und äußersten Präzision gewesen. Ich bezweifele , dass überhaupt irgendein Mensch ersetzbar ist. Aber vielleicht sind manche Menschen noch etwas weniger ersetzbar.
Genau wie der Dachstuhl, der nur 50 Meter entfernten Notre Dame, der eine Woche später nicht mehr existieren sollte…..
Auf dem Weg zum Lokal, wollte ich ihn noch fotografieren, habe es aber unterlassen, da mein geliebter Dachreiter von einem kühlen, stahlfarbenen Gerüst eingeschlossen war. Ich sage mir, in Paris wird ja ständig etwas anderes restauriert und der schönste Blick auf Notre Dame ist sowieso vom Dach des Institut du Monde Arabe aus.
Aber zurück zum Domherrn. Die von einer ausladenden knorrigen Glyzinie umrankte Tür des Restaurants steht offen und gibt den Blick frei auf den Domherrn. Das heißt auf ihn in steinernen Form mit ehrfürchtig gefalteten Händen. Hinter ihm an der Wand pappt ein Foto des Chefs des Lokals. Von George , der sich eher für Pferderennen und klassische Musik als für sein Lokal interessiert und von Odette, dessen Ehefrau, die nicht nur teilweise kocht, sondern die dem Restaurant, das immerhin schon seit 1512 existiert, einen ganz besonderen Charme verliehen hat.
Das Dekor des „Au Vieux Paris d’Arcole“ -besonders in der 1. Etage- ist überladen von mit rotem Samt überzogenen Antiquitäten, seidener Wandbespannung, , schweren Damastvorhängen, goldenen Bordüren, Spiegeln und Zinnfiguren- dass man das Gefühl hat, sich in der Wohnung eines Adligen aus dem 18. Jahrhunderts zu befinden.
Man verzeiht gerne die Grenze zum Kitsch, so liebevoll ist alles von der Wirtin zusammengefügt. In der unteren Etage, wo es etwas weniger plüschig zugeht, sitzt man dagegen auf original gotischen Kirchenbänken. Unweigerlich denke ich jetzt im Nachhinein an den filigran gearbeiteten Vierungsturm auf Notre Dame.
Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich acht Tage danach, live vor dem Fernseher erleben muss, wie das kunstvoll aus Holz geschnitzte Türmchen, das sich mit einem Überzug aus Blei gegen Witterungsschäden schützte, von lodernd-gefräßigen Feuerzungen erfasst , in sich zusammenknickt. Beim Anblick dieses Zerfallmoments fühlte ich mich unwillkürlich an das Zusammenbrechen der Zwillingstürme von New York im Jahre 2001 erinnert und ich spüre , dass sich diese Bilder lebenslang in mein visuelles Gedächtnis eingraben werden. Natürlich sind diese beiden Katastrophen nicht miteinander vergleichbar, da in letzterem Falle -Gott sei’s gedankt- keine Menschen ums Leben kamen. Trotzdem stellt Notre Dame das Herz von Paris dar und Paris wiederum das Herz von Frankreich. Wir Deutsche können dies kaum nachvollziehen, da wir nicht über Jahrhunderte hinweg eine solch zentralistische Ausrichtung wie die Franzosen hatten. Letztlich wurden aber Bauwerke wie der Kölner Dom nach französischen Vorbild errichtet und stehen somit in gewisser Weise für unsere europäische Kultur. Manch ein esoterisch Veranlagter könnte diesen drohenden Zerfall auch als ein Omen für den bevorstehenden Zerfall Europas interpretieren. Während der Liveberichterstattung zum Brand am 15. April erfuhr der irritierte Zuschauer , dass der amerikanische Präsident immerhin die Kirche kennt und gute Ratschläge geben will, wie man den Flammen per Hubschrauber zu Leibe rücken sollte, auch wenn diese abwegig waren. Peinlich nur, dass kurz darauf die renommierte New York Times Notre Dame mit dem Kölner Dom verwechselt hat.
Es erfüllt mich mit Schmerz , dass meine zweite Lieblingsperspektive auf Notre Dame, zumindest für die nächsten Jahre (Jahrzehnte ?) erstmal ziemlich „amputiert“ anmutet. Den Blick von der Rue des Ursins gleich neben dem Gradmesser der großen Überschwemmung von 1910, bei dem das Wasser übermannshoch auf der Insel stand, ist für mich der Blickwinkel, anhand dessen ich mir Notre Dame im Mittelalter am besten vorstellen kann:
Die schmale , dunkle Gasse Richtung Kathedrale , die in derem Turmpfeiler, von den Franzosen liebevoll „flèche , „Pfeil“ gipfelt. Weg ist er!
Wie einst die 28 Köpfe der Könige, die 1793 an der Westseite der Kathedrale von Revolutionären abgeschlagen wurden. Die Aufständischen waren so dumm, dass sie glaubten, sie hätten französische Königsstatuen enthauptet, dabei handelte es sich um alttestamentarische Herrscher.
Nach einer zwischenzeitlichen Entweihung (zeitweise als Weinlager missbraucht) des Gotteshauses, war es in einem so desolaten Zustand, dass teils die gruseligen Stein-Chimären, die das Böse fernhalten sollten, in die Tiefe stürzten.
Kein geringerer als Frankreichs Nationaldichter Victor Hugo hat mit seinem „ Glöckner von Notre Dame“ (franz. Titel: „Notre Dame de Paris“ , 1831) und dem im Roman enthaltenen klaren Appell zu ihrer Rettung beigetragen.
Ihre anschließende Generalrenovierung durch Viollet-le-Duc und der Ersatz des Teils verloren gegangenen Fassadendekors galt als wahre Pionierleistung der Denkmalpflege. Welch ein Spektakel war es dann, als im Jahre 1977 durch einen Zufall in einer Baugrube in der Rue de la Chaussee d’Antin ebendiese überdimensionalen in der Revolution abgeschlagenen Königsköpfe wieder auftauchten. Man kann sie nun im Musée de Cluny, dem Museum für Mittelalter bewundern. Wenn man es früher geschafft hat, die lange Schlange wartender Touristen hinter sich zu bringen, konnte man den Nordturm an der Eingangsseite der Kathedrale hochsteigen. In der Galerie oben angekommen, schaute man über die Schulter der teuflischen Steinwesen in die Tiefe und stellte sich mit einer gewissen Gänsehaut vor, wie Quasimodo aus Wut darüber, dass dessen Ziehherr, die schöne Zigeunerin Esmeralda als Hexe verbrennen ließ, diesen hinabstieß.
Das Mittelalter lebt auf. Vielleicht ist Quasimodo an der Stelle aufgeprallt, wo sich heutzutage die Touristen traubenförmig um eine Messingscheibe im Pflaster sammeln, die Point Zero genannt wird, weil von dort aus sämtliche Distanzen von Paris aus zu allen Städten Frankreichs gemessen werden?
Hebt man seinen Kopf aber in die Ferne, wird man mit einem grandiosen Blick über Seine und Stadt bis hin zum Eiffelturm belohnt. Man beneidet die Chimären fast etwas, da sie diesen Blick auch bei Sonnenuntergang ohne Touristenschwärme genießen dürfen. Nebenan hören sie dann die riesige Glocke des Nachbarturms, die deshalb so rein klingen soll, da bei Ihrem Guss im 17. Jh. die adligen Damen ihren Silber- und Goldschmuck hineinwarfen, um sich einen Platz im Himmel zu reservieren.
Die Kathedrale blieb nach der Revolution nicht lange ein „Tempel der Vernunft“ , weil Napoleon I diese 1802 schon wieder einweihen ließ, da er kurze Zeit später eine standesgemäße „Location“ brauchte, in der sich selbst die Kaiserkrone aufsetzte. Ein paar Tage nach dem Brand, in der darauffolgenenden Karwoche sollte am Karfreitag während einer Zeremonie der besonderen Art eine ganz andere Krone geehrt werden , die angebliche Dornenkrone Christi.
Vor wenigen Jahren nahm ich einmal an dieser Zeremonie teil, bei der sehr darauf geachtet wird, dass sich kein Tourist wie ein solcher benimmt, sondern dass in einem streng-pietätsvollen Rahmen die Besucher, die in transparentem Kristall und in Gold gefasste Dornenkrone berühren oder küssen dürfen. Wie auch immer es so mit der Echtheit von Reliquien bestellt ist, ist es jedenfalls Fakt, dass Ludwig IX, diese wichtige Reliquie einst zu einem immensen Betrag von Konstantinopel aufkaufte, und dem Dornenkranz ein würdiges „Schmuckkästchen“ bot, indem er die kleine , aber sehr feine Schwester von Notre Dame , die Sainte Chapelle in einer absoluten Rekordzeit von nur 33 Monaten Fertiggestellen ließ. Dafür wurde Ludwig IX heilig gesprochen, später wurde die Nachbarinsel der Ile de la Cité, auf der Notre Dame steht, nach ihm benannt und Paris gewann als geistiges und dann nachfolgend auch als wirtschaftliches Zentrum enorm an Bedeutung. Ob Macron es schafft, in einer Rekordzeit von fünf Jahren die Baustelle zu beseitigen und unter anderem auch damit Frankreich wieder ein bisschen innerlich zu stärken, wird die Zukunft erweisen. Seit der französischen Revolution wurde die Dornenkrone jedoch in der Domschatzkammer von Notre Dame aufbewahrt, bis diese am besagten Unglückstages des 15. Aprils 2019 in heldenhafter Weise von einem beherzten Kaplan und Seelsorger der Pariser Feuerwehr vor dem Flammentod in Sicherheit gebracht wurde.
Paris ist letztlich wie eine edle alte Dame, die im Laufe ihrer bewegten Geschichte immer wieder und gerade auch in den letzten Jahren von den schlimmsten Schicksalsschlägen heimgesucht worden ist und trotzdem dank ihres dauernden Restaurationsbestrebens einfach nichts an Glanz und Eleganz verlieren wird. Vielleicht auch weil ihre Bewohner, die zwar jetzt alle gemeinsam trauern, letztlich dem Wahlspruch ihres Stadtwappens treu sind: „Fluctuat, nec mergitur“ – sie schwankt, aber sie geht nicht unter !
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